Die Pflege von Angehörigen gehört zu den emotional herausforderndsten Aufgaben, die sich im familiären Umfeld stellen können. Besonders belastend wird die Situation, wenn der zu Pflegende nicht kooperiert. Schnell fallen dann Begriffe wie „Altersstarrsinn“ oder „Dickköpfigkeit“. Doch was verbirgt sich hinter diesem Phänomen wirklich? Gibt es so etwas wie Altersstarrsinn, oder handelt es sich um einen Mythos, der oft falsch interpretiert wird? In diesem Artikel beleuchten wir die Hintergründe und zeigen Wege auf, wie Angehörige und Pflegende besser mit diesen Situationen umgehen können.
Was ist Altersstarrsinn?
„Altersstarrsinn“ ist ein umgangssprachlicher Ausdruck, der beschreibt, dass ältere Menschen oft an eingefahrenen Gewohnheiten festhalten und Veränderungen ablehnen. Doch dieser Begriff ist stark negativ konnotiert und wird selten objektiv betrachtet. Altersstarrsinn impliziert, dass ältere Menschen unwillig oder unfähig sind, sich anzupassen. Diese Annahme spiegelt jedoch oft nur die Frustration der Pflegenden wider, während die Ursachen auf einer viel tiefergehenden, psychologischen oder medizinischen Ebene zu suchen sind.
Physiologische und psychologische Gründe für Verhaltensänderungen im Alter
Im Alter verändert sich nicht nur der Körper, sondern auch das Gehirn. Kognitive Fähigkeiten wie Flexibilität, Gedächtnis und Anpassungsfähigkeit können nachlassen. Dies führt dazu, dass ältere Menschen langsamer auf Veränderungen reagieren oder sich von neuen Situationen überfordert fühlen. Hinzu kommen oftmals Krankheiten wie Demenz, Alzheimer oder Depressionen, die den Charakter und das Verhalten verändern können. Was von außen wie Starrsinn wirkt, ist in vielen Fällen eine Reaktion auf den Verlust von Kontrolle und Selbstbestimmung.
Beispiele für Ursachen vermeintlichen „Starrsinns“:
Angst vor Veränderung: Mit dem Alter verlieren viele Menschen das Gefühl von Sicherheit und Kontrolle. Selbst kleinere Veränderungen können verunsichern und führen oft zu einer Ablehnung jeglicher Anpassung.
Kognitive Einschränkungen: Erkrankungen wie Demenz oder Alzheimer beeinträchtigen das Kurzzeitgedächtnis, was dazu führen kann, dass der ältere Mensch sich nicht an Absprachen erinnert und diese unbewusst ignoriert.
Schmerz und körperliche Einschränkungen: Viele ältere Menschen leiden an chronischen Schmerzen oder haben Bewegungseinschränkungen, was dazu führt, dass sie pflegerische Maßnahmen als unangenehm empfinden und sich dagegen sträuben.
Depression und soziale Isolation: Häufig wird das Verhalten älterer Menschen von Depressionen beeinflusst, die durch Einsamkeit, den Verlust von Freunden oder gesundheitlichen Verfall entstehen.
Missverständnis zwischen Pfleger und Angehörigem
Pflegende und Angehörige neigen häufig dazu, das Verhalten des Pflegebedürftigen als absichtliche Verweigerungshaltung wahrzunehmen. Es entsteht ein Kreislauf aus Frustration: Der Pflegende fühlt sich überfordert, weil er auf Widerstand stößt, und der Pflegebedürftige erlebt eine zunehmende Entmündigung. Wichtig ist hier, das Verhalten nicht persönlich zu nehmen und sich bewusst zu machen, dass die Ablehnung meist eine tiefere Ursache hat.
Wie kann man mit dem Verhalten umgehen?
Es gibt mehrere Strategien, wie Pflegende besser mit der scheinbaren Verweigerungshaltung umgehen können. Diese beinhalten Empathie, Geduld und das Verständnis dafür, dass die Wahrnehmung und die Bedürfnisse älterer Menschen sich stark von denen Jüngerer unterscheiden können.
1. Geduld und Verständnis zeigen
Statt den Pflegebedürftigen sofort als „stur“ oder „widerspenstig“ abzustempeln, sollten Pflegende versuchen, die Gründe für sein Verhalten zu verstehen. Dies erfordert Geduld und die Fähigkeit, sich in die Lage des älteren Menschen zu versetzen. Vielleicht empfindet dieser Unsicherheit oder Schmerz, die nicht auf den ersten Blick ersichtlich sind.
2. Kommunikation anpassen
Manchmal hilft es, in einer ruhigeren, einfacheren Sprache zu sprechen. Viele ältere Menschen brauchen mehr Zeit, um Informationen zu verarbeiten. Auch das Angebot von Alternativen oder das Erklären von Abläufen können helfen, Widerstand zu verringern.
3. Selbstbestimmung fördern
Ein Gefühl des Kontrollverlusts kann bei älteren Menschen Ängste auslösen, was dann zu „Starrsinn“ führen kann. Indem man dem Pflegebedürftigen Wahlmöglichkeiten gibt und ihn in Entscheidungen einbezieht, kann dieses Gefühl gemindert werden. Auch kleine Freiheiten – wie die Wahl der Kleidung oder der Zeitpunkt des Essens – können eine große Wirkung haben.
4. Professionelle Unterstützung suchen
In besonders schwierigen Fällen kann es hilfreich sein, professionelle Unterstützung hinzuzuziehen. Pflegeberater, Psychologen oder Sozialarbeiter haben oft Erfahrungen mit ähnlichen Fällen und können wertvolle Tipps und Hilfestellungen bieten. Auch der Austausch in Selbsthilfegruppen kann für pflegende Angehörige entlastend wirken.
5. Selbstfürsorge nicht vergessen
Pflegende Angehörige tragen eine immense Verantwortung und neigen oft dazu, sich selbst zu vernachlässigen. Es ist wichtig, regelmäßig Auszeiten zu nehmen und auf die eigene psychische und physische Gesundheit zu achten, um langfristig leistungsfähig und emotional stabil zu bleiben.
Altersstarrsinn – Ein Mythos mit realen Ursachen
„Altersstarrsinn“ ist kein feststehendes Phänomen, sondern oft Ausdruck tieferer, komplexer Ursachen wie Angst, kognitive Einschränkungen oder körperliche Beschwerden. Der Begriff ist irreführend und vernachlässigt die menschliche und medizinische Seite des Problems. Anstatt den Pflegebedürftigen als „unkooperativ“ wahrzunehmen, sollten Angehörige und Pflegende versuchen, hinter das Verhalten zu schauen und nach Lösungen zu suchen, die sowohl den Bedürfnissen des Pflegebedürftigen als auch den eigenen gerecht werden.
Die Pflege von Angehörigen ist eine Herausforderung, die Verständnis, Geduld und Einfühlungsvermögen erfordert. Wenn wir aufhören, das Verhalten alter Menschen als „Starrsinn“ zu bewerten, und stattdessen die zugrunde liegenden Ursachen erkennen, schaffen wir die Grundlage für eine respektvollere und effektivere Pflege.